Immer wieder begegne ich interessanten Menschen, die ein außergewöhnliches Unternehmen führen oder sehr spannende Dienstleistungen anbieten. Einer davon ist Carsten Thiele von der child & parents gGmbH. Er hat Pädagogik mit Schwerpunkt Psychologie an der Uni in Kassel studiert, Theologie am Theologischen Seminar in Marburg, zudem BWL an der Fachhochschule in Münster und ist approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut.
Die child & parents gGmbH berät und unterstützt Eltern, Erzieher, Jugendämter, Schulen und Unternehmen in unterschiedlichen Aufgabenfeldern, angefangen von der Fachberatung für Kitas und Erziehungsstellen, über Hilfen zur Erziehung für die LHH und Region Hannover, bis hin zu Berufswahlcoaching, Supervision und Fort- und Weiterbildungsangeboten.
Carsten, wie sieht bei Dir ein normaler Tag aus, was machst Du genau?
Bei mir sieht jeder Tag anders aus, pauschal kann man das also nicht sagen. Da ich alle Themen, die wir bei child & parents abdecken, auch selbst betreue, bin ich mal in einer Kindertagesstätte zur Fachberatung, mache eine Supervision oder berate Eltern und ihre Kinder bei Problemen in der Erziehung. Nebenbei leite ich hier im Büro ein Team aus derzeit 10 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Euer Ansatz ist es, Kindern immer mit ihren Eltern gemeinsam zu helfen. Warum?
Bei nahezu 100% der Probleme, die wir im Kindesumfeld sehen bzw., die uns vorgestellt werden, ist das gesamte „System“ beteiligt. Also die Eltern, die Einrichtung, die gesamte Familie. Oft sind es Erziehungsfehler, die die Eltern machen, welche sich dann auf das Kind oder den Jugendlichen auswirken. Dadurch wird es / er auffällig. Es ist daher sinnvoll, eine Therapie oder eine Beratung nicht ausschließlich auf das Kind zu richten, sondern die gesamte Situation und vor allem die Eltern mit einzubeziehen.
Hat sich Deine Arbeit in den letzten Jahren stark verändert, haben sich die Probleme der Kinder und Eltern verändert?
Ja. Aus meiner Sicht hat sich die „Erziehungskompetenz“ der Eltern verringert. Dies resultiert vor allem aus der größeren Belastung von Außen. Der tägliche Stress und Zeitdruck durch Berufstätigkeit und andere Verpflichtungen wächst.
Ich erkenne eine große Entwicklung zur „Selbstoptimierung“ (vgl. Buch: Zonen der Selbstoptimierung: Berichte aus der Leistungsgesellschaft, Felix Klopotek) sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich. Der Zwang von außen überträgt sich auf die Person, so dass man immer mehr Idealen hinterher läuft. So häufen sich die Termine für die Eltern und die Kinder. Das Kind lernt ein Musikinstrument, geht zum Sport oder singt im Chor. Den Eltern geht es genauso. Die Woche ist voller Termine. Freies Spielen oder Zeit zum Lesen – Fehlanzeige. Das Wochenende ist die einzige Zeit, in der man „Familienzeit“ hätte, aber da müssen alle ausruhen und sich entspannen. Die Kinder müssen „chillen“.
Ein weiterer Grund für eine vermehrte Auffälligkeit bei Kindern ist die Tatsache, dass sie mehr und mehr als „kleine Erwachsene“ behandelt werden. Es gibt wenig Regeln, Kinder haben nahezu gleiche Rechte wie Erwachsene. Außerdem fungieren sie oft als Freund- oder Partner-Ersatz und werden dadurch oft mit Problemen belastet, die sie selbst gar nicht bewältigen können.
Stichwort Mediennutzung: Viele Kinder sieht man bereits im Alter von 8 Jahren mit dem eigenen Handy. Tägliches Fernsehen ist für Kleinkinder schon fast normal. Ein Trend, der sich nicht aufhalten lässt. Wie siehst Du den Einfluss der Digitalisierung auf die Kinder?
Grundsätzlich sind die Digitalisierung und die Möglichkeiten, die sich aus ihr ergeben, etwas Positives. Problematisch daran ist nur die Nutzung. Das gilt für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Während Kinder ihr Handy vor allem nutzen, um zu spielen und um miteinander zu chatten oder auszutauschen, nutzen viele Erwachsene das mobile Gerät, um noch mehr zu arbeiten und immer erreichbar zu sein. Wieder eine Form der „Selbstoptimierung“. Immer für alle erreichbar und jederzeit über alles informiert.
Diese Entwicklung führt mittlerweile sogar dazu, dass für Manager Seminare angeboten werden, bei denen sie ohne jegliche Technik eine Woche im Wald verbringen. Was sich zunächst für die Teilnehmer undenkbar anhört, sorgt für ein echtes „Loslassen“ und ein Besinnen auf das Wesentliche. Schon verrückt.
Wir stellen bei unseren Veranstaltungen immer wieder fest, dass die Kinder das Einfache oft sehr fasziniert: mit einem Kartoffelstempel kreative Bilder gestalten, in eine Fühlkiste hineingreifen (wie bei unserem Erlebnisstand Welt der Sinne) oder mit einem unserer Steckspiele riesige Häuser bauen, in die man hineinklettern kann. Gilt heute mehr denn je „back to basic“? Welche Freizeitgestaltung brauchen Kinder heute?
Ich erlebe immer wieder in Kindergärten oder in meinen Coachings, dass Kinder mit 5 oder 6 Jahren viele Grundfähigkeiten nicht gelernt haben: Bilder ausmalen, das Ausschneiden mit einer Schere oder die Gelenkigkeit, um zu springen und zu klettern. Es fehlt sehr vielen Kindern an Bewegung und Feinmotorik. Beides ist sehr wichtig und man merkt, dass die Kinder daran Spaß haben, wenn man sie lässt.
Außerdem ist die Lesekompetenz sehr wichtig. Eltern lesen zu wenig mit ihren Kindern, was dann in der Grundschule zu Problemen führt.
All diese Dinge sollten regelmäßig in die Freizeitbeschäftigung der Kleinen eingebaut werden. Früher gab es keine Handys und Tabletts und auch der Fernsehkonsum war in meiner Kindheit ein deutlich anderer. Dadurch bewegen sich die Kinder weniger und sind vom ständigen Input der Geräte „gesättigt“. Es spricht nichts gegen diese Medien, doch ein bisschen mehr „back to basic“ würde den meisten Kindern gut tun.
Vielen Kindern in Deutschland geht es materiell gut. Die Spielzeugbranche boomt. Fehlt es unseren Kindern heute an etwas?
Ja, aber es ist nichts Materielles. Ihnen fehlt es heute an Beziehungen! Beziehungen zu ihren Eltern, zu Familie, Freunden und Klassenkameraden. Aber eine gesunde Beziehung braucht Zeit und Freiraum für beide Seiten. Gemeinsame Zeit mit den Eltern und der Familie stärkt Kinder und zeigt Ihnen auch die Regeln auf, die sie brauchen. Wir brauchen mehr Zeit miteinander, um diese Beziehungen aufzubauen. Ein schönes Zitat in diesem Zusammenhang ist von Francois de Rochefoucauld: „Selbstvertrauen ist eine Quelle des Vertrauens zu anderen.“